Reinhold Messner. Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will

Reinhold Messner polarisiert. Entweder man findet ihn wegen seiner bergsteigerischen Leistung großartig oder man lehnt ihn ab, weil man ihn als überheblich oder zu sehr auf Selbstdarstellung bedacht empfindet. Ob man Reinhold Messner nun mag oder nicht, er ist einer der bedeutendsten Bergsteiger und hat weit über seine aktive Zeit als Extrembergsteiger hinaus den Alpinismus geprägt wie kein anderer. Ich war im Teenageralter, als Reinhold Messner ohne zusätzlichen Sauerstoff den Everest bestiegen hat. Eine Sensation.

Reinhold Messner hat nicht nur unzählige Gipfel bestiegen, eisige und heiße Wüsten durchquert und mehrere Filme gedreht, er ist auch ein sehr produktiver Buchautor. Mehr als 70 Bücher hat er meist als Alleinautor herausgebracht. Der Titel Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will ist ein Zitat aus dem Hölderlin-Gedicht “Lebenslauf”, das im Buch als eine Art Prolog abgedruckt ist.

Reinhold Meßner wurde 1944 in einem Südtiroler Bergdorf im Schatten der Geislerspitzen als eines von neun Geschwistern geboren. Mit fünf Jahren klettert er zusammen mit seinem Vater auf seinen ersten Dreitausender. Die Kletterleidenschaft teilt er mit seinem Bruder Günther. Die beiden werden zu einer erfolgreichen Seilschaft in den Alpen und später im Himalaya bis zum tragischen Tod von Günther Messner 1970 am Nanga Parbat.

In seiner Studentenzeit macht Messner in den Dolomiten und in den Westalpen Erstbegehungen “am laufenden Band”, darunter die direkte Ortler-Nordwand, der Walkerpfeiler der Grandes Jorasses und die direkte Civetta-Wand. Lesend folgt man Reinhold Messner all die Wände rauf und runter. Nebenbei erfährt man Einiges aus der Praxis von Topkletterer, zum Beispiel dass sie für die Routenplanung die Linie auf ein Foto der Wand einzeichnen oder wie sie sich bei einem ungeplanten Biwak vor dem Erfrieren schützen. Messner klettert von Erfolg zu Erfolg und kann mit Mitte zwanzig schon auf “tausend unfallfreie Klettertouren” zurückblicken. Er stapelt nicht tief, sondern macht deutlich, dass er meist besser als die Konkurrenz ist. Warum Messner ein Ausnahmebergsteiger wurde? Weil Bergsteigen das ist, was er am besten kann, und weil er sich in extremen Situationen auf seinen Überlebensinstinkt verlassen kann. Außerdem hatte er unfassbar viel Glück.

Karl Herrligkoffer lädt Messner zu einer Expedition ein, die 1970 zum Nanga Parbat geht. Messner reizt an dem Projekt die 5.000 Meter hohe Rupal-Wand, die fast dreimal so hoch ist wie die Eiger-Nordwand und von Hermann Buhl, dem Erstbesteiger des Nanga Parbat, als “unbesteigbar” eingestuft worden war. Auch Reinhold Messners Bruder Günther gehört zum Expeditionsteam. Nachdem die Brüder den Gipfel erreicht haben, werden sie beim Abstieg bei extremen Minustemperaturen ohne Ausrüstung zu einem Biwak im Freien gezwungen. Beide sind in einem schlechten Zustand. Da sie kein Seil haben, steigen sie am nächsten Tag über die leichtere Diamir-Wand ins Tal ab und verlieren sich dabei aus den Augen. Nach einer einwöchigen Odyssee erreicht Reinhold Messner mit erfrorenen Zehen das Basislager. Sein Bruder Günther bleibt am Nanga Parbat verschollen, vermutlich wurde er von einer Lawine verschüttet. Nach der Expedition entbrennt eine mediale Schlammschlacht zwischen Messner und anderen Teilnehmern über den genauen Ablauf der Ereignisse, die bis heute anhält. Ich persönlich finde die Schilderung Reinhold Messner im Buch plausibel, zumal er fast selbst umgekommen wäre. Sicher ist, dass die Brüder bei der Durchsteigung der Rupal-Wand und beim fatalen Abstieg ins Diamir-Tal zu viele Grenzen überschritten haben.

Zur Berglegende wurde Reinhold Messner, weil er in den 1970er und 1980er Jahren ständig Grenzen, die als unüberwindbar galten, versetzt hat. Everest ohne Sauerstoff, Solobesteigung von Achttausendern, alle Achttausender, alle Seven Summits - das galt alles als menschenunmöglich, bis Messner es gemacht hat. Allein wegen Messners laufender Tabubrüche in den Bergen überall auf der Welt lohnt es sich, das Buch zu lesen. “Ein letztes Tabu” lautet dann auch die Überschrift des Kapitels, das die Besteigung des Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff beschreibt. Das war 1978 zusammen mit Peter Habeler. Natürlich läuft dieses Unternehmen mehrmals fast aus dem Ruder, aber letztlich gelingt es. Ein Orkan zwingt die Gipfelmannschaft beim ersten Versuch auf dem Südsattel nach 50 Stunden zum Umkehren. Der zweite Versuch ist dann erfolgreich, halb kriechend, halb robbend erreichen Messner und Habeler den Gipfel. Beim Filmen mit einer Super-8-Kamera ohne Schneebrille holt sich Messner eine Schneeblindheit und schafft nur mit Mühe und Not den Abstieg ins Basislager. Und dann? Kaum im Basislager angekommen, ist der Everest “by fair means” abgehakt und Messner in Gedanken schon beim nächsten Projekt.

Als ich im Basislager ankam, hatte ich das Gefühl, daß mir etwas fehlte. Dort, wo früher die Utopie vom Everest ohne Maske gesessen hatte, war jetzt ein Loch. Zum Glück hatte ich noch eine Idee: ein Mensch und ein Achttausender. Ich beschäftigte mich jetzt mehr und mehr mit dem Ziel, den Nanga Parbat im Alleingang zu bewältigen. Meine Seele war zu diesem neuen Traum unterwegs.

Von Traum zu Traum, von Tabu zu Tabu - darunter die Alleinbegehung des Nanga Parbat und des Everest - geht es weiter, bis Messner 1986 mit dem Lhotse den letzten Achttausender auf seiner Liste abhaken kann. Damit stand er als erster Mensch auf allen 14 Achttausendern. Bereits ein Jahr zuvor, nach dem Tod seines Bruders Siegfried, der in den Dolomiten vom Blitz getroffen wurde, hatte Messner seiner Mutter versprochen, auf keine hohen Gipfel mehr zu steigen. Er hält sich an das Versprechen, was ihm nicht schwerfällt, weil er “diese kleine Welt der höchsten Berge inzwischen zu gut kannte”.

Danach beginnt Messners Leben in der Horizontalen. Er durchquert Grönland, die Antarktis, Wüsten und Hochflächen. Schon im Jahr 1983 hatte Messner die Burg Juval im Vinschgau in der Nähe von Meran gekauft und renoviert - das erste Museum von insgesamt sechs Messner Mountain Museen, die Messner seither in Südtirol als “Erlebnismuseen” zum Thema Berg ins Leben gerufen hat. Reinhold Messner ist weiterhin aktiv und als “Storyteller unterwegs”, und Geschichten erzählen kann er wirklich gut.

Fazit

Der Untertitel “Ein Bergsteigerleben” ist wörtlich zu nehmen. Reinhold Messner berichtet in 63 Kapiteln chronologisch von seinem Werdegang vom Bauernbuben aus dem Vilnößtal zum überragenden Bergsteiger der 1970er und 1980er Jahre, zum erfolgreichen Bergevent-Veranstalter, Autor und Museumsgründer. Messner schreibt, wie er spricht. Das Buch hört sich richtig nach Messner an, man kennt ja seine Art zu erzählen aus dem Fernsehen. Wie in vielen anderen Bergsteigerbiografien auch sind die Details mancher frühen Touren manchmal etwas ermüdend. Messner schreibt aber so spannend, gibt so viele Einblicke in die Praxis des Kletterns und Höhenbergsteigens und hat das Buch so geschickt mit Fotomaterial bestückt, dass ich dieses Stück Alpingeschichte mit großem Genuss gelesen habe.

Titel: Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will

  • Autor: Reinhold Messner

  • Verlag: Malik

  • Erscheinungsjahr: 4. Auflage 2021 (1. Auflage 2012)

  • Umfang: 416 Seiten, Klappenbroschur

  • Preis: 20 Euro